Europäische Bahngewerkschaften schlagen Alarm. Denn wenn es nach dem Willen der EU-Kommission geht, dann soll der vor gut 20 Jahren eingeleitete Liberalisierungs- und Privatisierungsprozess im Eisenbahnwesen mit aller Gewalt fortgesetzt und die Widerstandsfähigkeit der Gewerkschaften eingeschränkt werden.
Stein des Anstoßes ist ein neuer, im vergangenen Herbst veröffentlichter Richtlinienentwurf der EU-Kommission für den Eisenbahnsektor. Damit soll das Tor für eine vollständige Liberalisierung des Schienenverkehrs und uneingeschränkte Marktöffnung, eine Zerschlagung und Fragmentierung der bestehenden großen Eisenbahngesellschaften durch strikte Trennung von Infrastruktur und Betrieb, eine Ausgliederung von Teilbereichen und Dienstleistungen sowie für Lohn- und Sozialdumping geöffnet werden. In den von der Kommission vorgesehenen „Mindestdienstleistungen“ für den Fall von Arbeitskämpfen sehen die Gewerkschaften Angriff auf das bestehende nationale Streikrecht, das in einigen EU-Staaten sogar Verfassungsstatus hat.
Eine vollständige Umsetzung dieses Entwurfs würde europaweit endgültig „britische Zustände“ im Eisenbahnwesen schaffen und über kurz oder lang an die Stelle bisheriger Staatsbahnen neue private Verkehrsmonopole setzen, warnt die britische Bahn- und Verkehrsgewerkschaft RMT. Sie hatte bereits im Januar auf eigene Initiative Gewerkschafter aus ganz Europa nach London geladen, um die aktuelle Lage und gemeinsame Widerstandsmaßnahmen zu besprechen. Am 24. Mai, wenn der Verkehrsausschuss im Europaparlament den Richtlinienentwurf behandelt, will die Europäische Transportarbeiterföderation (ETF) vor dem EU-Parlament in Brüssel gegen das Projekt protestieren. Auch die bundesdeutsche Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) ruft ihre Mitglieder zur Teilnahme auf. Eine Beratung und Beschlussfassung durch das Parlament ist für den 6. Juli vorgesehen.
Um sich für die Debatte fit zu machen, hatte die aus Hamburg stammende bundesdeutsche Europaabgeordnete Sabine Wils im Auftrag der europäischen Linksfraktion (GUE/NGL) bereits Anfang März Eisenbahner und Sachverständige zu einer Anhörung nach Brüssel geladen. Dabei waren sich Gewerkschafter aus allen Teilen Europas einig in der Ablehnung der Liberalisierungs- und Privatisierungstendenzen. Bei einer Ausgliederung von Rangierarbeiten, Werkstätten oder Fahrkartenschaltern kämen die Interessen der Beschäftigten „unter die Räder“, warnte etwa der Guy Greivelding, Vorsitzender der Sektion Eisenbahn in der ETF. Den Angriff der Kommission werde sein Dachverband „entschlossen bekämpfen“.
Andere Gewerkschafter stellten das zurückliegende Winterchaos bei den Bahnen in Schweden und Deutschland oder Eisenbahnunfälle wie die durch einen Achsbruch an einem Güterwaggon ausgelöste Explosion im italienischen Viareggio 2009 mit über 20 Todesopfern in einen Zusammenhang mit einer Zerschlagung bestehender integrierter Bahnen und verschärftem Wettbewerb zu Lasten der Sicherheit und der Beschäftigten. „Die Liberalisierung nagt an der Sicherheit, da lass ich mir keinen Bären aufbinden“, bekräftigte auch Greivelding: „Wo Kostendruck und Konkurrenz zwischen Werkstätten vorherrscht, da wird Pfusch gemacht. Das kann auch zu Unfällen führen.“
„Niemand will das Streikrecht einschränken oder die Privatisierung vorschreiben“, verteidigte ein Vertreter der EU-Kommission den Richtlinienentwurf. „Wettbewerb dient der Privatisierung, was ist das sonst?“, konterte der EVG-Vertreter: „Wir brauchen keine Konkurrenz zwischen Kollegen, die plötzlich zu Feinden werden.“ Etliche Gewerkschafter widersprachen vehement der Auffassung, dass ein verschärfter Wettbewerb zwischen den Bahnen mehr Verkehr auf die Schiene bringen werde. Das Gegenteil sei der Fall. Statt ruinösem Verdrängungswettbewerb brauche der Schienenverkehr die partnerschaftliche Zusammenarbeit demokratisierter und transparenter Staatsbahnen, griff auch Sabine Wils eine von mehreren Rednern aufgeworfene Idee auf.
Dass die europäische Linksfraktion im EU-Parlament als Bezugspunkt für die Bahngewerkschaften bislang jedoch ziemlich alleine dasteht, machte der Redebeitrag der Italienerin Debora Serracchiani von der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten deutlich. Sie ist Mitglied im Verkehrsausschuss ist und gibt in dieser Frage in ihrer Fraktion den Ton an. Die Parlamentarierin rechtfertigte den Entwurf der Kommission mit dem Hinweis, es müsse „einfach etwas getan werden, um einen einheitlichen Eisenbahnmarkt zu schaffen“ und den Anteil der Eisenbahn am gesamten Verkehrsaufkommen zu erhöhen. „Mit der von Debora Serrachiani favorisierten Trennung von Infrastruktur und Betrieb würden jedoch diese integrierten Eisenbahnunternehmen zerschlagen und damit leichter privatisierbar gemacht werden“, warnen führende ETF-Vertreter, darunter auch der EVG-Vorsitzende Alexander Kirchner, in einem Brandbrief an Serrachianis Fraktionschef, den SPD-Europaabgeordneten Martin Schulz. Der Brief ist dem Vernehmen nach bislang unbeantwortet geblieben und bringt zumindest in dieser Frage ein Zerwürfnis zwischen sozialdemokratischen Gewerkschaftern und sozialdemokratischen EU-Parlamentariern zum Ausdruck. „Diesem marktliberalen Weg wird sich die EVG im Verbund mit ihren europäischen Partnergewerkschaften in der ETF konsequent entgegenstellen“, kündigt der EVG-Vorstand seinen Mitgliedern und der Öffentlichkeit an.
So ist es für Europas Eisenbahner jetzt „fünf vor zwölf“, und die Stunde der Wahrheit naht. Denn sollten die anstehende Demonstration und die individuelle Lobby-Arbeit bei einzelnen EU-Abgeordneten nicht fruchten, dann böte sich als Steigerung ein gemeinsames Vorgehen nach dem Vorbild der in der ETF organisierten europäischen Hafenarbeiter an. Ihnen war es 2005 und 2006 durch europaweit koordinierte Kampfmaßnahmen und einen Marsch auf das EU-Parlament gelungen, die von der EU-Kommission mit einem Richtlinienentwurf, dem „Port Package“, geplante Liberalisierung für die Seehäfen zu verhindern und damit ihre noch relativ gut bezahlten Arbeitsplätze zu verteidigen. Etliche konservative EU-Abgeordnete waren durch diesen Druck zu einem Nein in der entscheidenden Abstimmung zu bewegen. „Wenn die europäischen Hafenarbeiter in ihren Aktionen letztlich erfolgreich waren, zeigt das doch, wie wirksam Mobilisierung sein kann. Warum sollte dies den straff organisierten europäischen Eisenbahngewerkschaften nicht gelingen?“, greift Alfred Lange, Betriebsratsvorsitzender der DB Schenker Rail in Frankfurt und Mitbegründer der Initiative „Bahn von unten“, diese Erfahrungen auf.
Johannes Birk 28.04.2011