Nach viereinhalb spannenden Jahren ist der aktuelle Gewerkschaftstag der Bahngewerkschaft EVG – ehemals TRANSNET – im November 2012 Anlass genug, um zu fragen: Wo stehen wir heute? Ist es uns gelungen, die aus der Wut über den Seitenwechsel von Norbert Hansen erwachsene Sehnsucht nach Veränderung in positive Schritte umzusetzen und entsprechende politische und organisatorische Konsequenzen zu ziehen?
Erinnern wir uns: „Transnet will die Privatisierung“, hielt uns bei der zentralen DGB-Maikundgebung 2008 in Mainz der Hauptredner Kurt Beck (SPD) entgegen, als wir gegen den gerade beschlossenen Bahn-Börsengang protestierten. Eine Woche später dann die Auflösung des Rätsels: Norbert Hansen trat als TRANSNET-Vorsitzender zurück und wechselte als neuer Personalvorstand nahtlos in die DB-Chefetage. Viele Mitglieder sahen darin einen Verrat. Zuvor hatte Hansen jahrelang im Schulterschluss mit dem damaligen DB-Chef Hartmut Mehdorn die Privatisierung propagiert und Privatisierungskritiker in den eigenen Reihen gegängelt und mundtot gemacht.
Hansens Nachfolger Lothar Krauß blieb auf Linie und war nur kurz im Amt. Im November stolperte er über Boni für Manager im Zusammenhang mit dem für Oktober 2008 geplanten Börsengang, denen er im Personalausschuss des DB-Aufsichtsrats zugestimmt hatte. Seit November 2008 steht Alexander Kirchner an der Spitze der Organisation.
Ein Jahr später erfolgte dann die Weichenstellung für den Zusammenschluss der TRANSNET mit der Verkehrsgewerkschaft GDBA zur neuen Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG. Mit der GDBA begab sich erstmals ein Mitgliedsverband des Deutschen Beamtenbunds (DBB) unter das Dach des DGB. Durchaus ein Fortschritt, denn in den Jahren zuvor hatte Norbert Hansen immer lauter darüber nachgedacht, den DGB zu verlassen. Das ist jetzt Vergangenheit. Mit Alexander Kirchner gab und gibt sich die EVG redlich Mühe, als fester Partner im DGB mitzuarbeiten und den Zwist mit ver.di um Organisationszuständigkeiten etwa bei den DB-Regionalbusgesellschaften beizulegen.
Was ist aus der Ende 2010 erfolgten Fusion geworden? Vielen drängt sich der Eindruck auf, dass die Organisation zwei Jahre danach immer noch und fast ausschließlich mit der Organisation befasst und beschäftigt ist. Inhaltliche und politische Diskussionen finden nicht statt. Man hat sogar den Eindruck, dass sie auch nicht erwünscht sind, außer wenn ein Mitglied der geschäftsführenden Vorstands eine Bühne braucht. Und den Eindruck, dass das „System Hansen“ auch ohne Norbert Hansen vielleicht doch noch weiter lebt.
Mit der Fusion hat man dem ehrenamtlichen Moment einen gewaltigen Schwerpunkt verliehen. Dies bedeutet einen Rückzug hauptamtlicher Betreuung aus der Fläche einerseits und eine Verlagerung der gewerkschaftlichen Interessenvertretung auf Betriebsräte und Vertrauenspersonen anderseits. Nicht genug, dass diese Veränderung organisatorisch (noch) nicht funktioniert und viele ehrenamtliche rein kräftemäßig überfordert und dadurch faktisch gelähmt sind: Es fehlt auch jede politische Stärkung und Ausrichtung der neu bestimmten Kader. Jeder ist auf sich selbst gestellt und wurstelt sich durch. Bundesbetriebsrätekonferenzen kommen in der neuen Satzung nicht mehr vor.
Nachdem der damalige Finanzminister Peer Steinbrück nach Ausbruch der Bankenkrise den für Oktober 2008 angesetzten Börsengang der (eigens für die Teilprivatisierung geschaffenen Holding) DB ML AG in letzter Sekunde absagte, wurde das Thema Privatisierung und Börsengang in unserer Gewerkschaft einfach ad acta gelegt. Wohl in der trügerischen Hoffnung, dass das Problem sich durch die Wirtschaftskrise von selbst erledigt. Die Chance, genau diese Krise zu nutzen und die in breiten Diskussionsforen ermittelten Erkenntnisse in Beschlüsse zu gießen, wurde bislang vertan. Überstunden und Leiharbeit gehen bei der Deutschen Bahn munter weiter, von den Arbeitsbedingungen bei den vielen Privatbahnen ganz zu schweigen. Anstatt diese Missstände breit zu skandalisieren, wie dies jüngst bei der Lufthansa gelungen ist, sind wir weiter den Kollateralschäden der Privatisierung ausgesetzt, ohne alle Kräfte dagegen zu mobilisieren.
„Sollte die Privatisierung erneut aufgerufen werden, dann machen wir eine Mitgliederbefragung und Diskussion”, versprach Alexander Kirchner bei einem Kleinen Gewerkschaftstag Ende 2011 in Fulda. Wann ist dieser Zeitpunkt gekommen, wenn nicht jetzt? Denn der von der EU ausgehende Druck in Richtung Trennung von Netz und Betrieb und Zerschlagung integrierter Eisenbahnen ist ein Teil der Privatisierungsstrategie und Rosinenpickerei und letztlich auch eine Existenzgefährdung für unsere Gewerkschaft.
Es ist höchste Eisenbahn – für den Schulterschluss mit allen Eisenbahngewerkschaften in Europa und allen von Privatisierung und Zerschlagung betroffenen und bedrohten Kolleginnen und Kollegen in anderen Branchen. Lernen wir vom erfolgreichen Widerstand der europäischen Hafenarbeiter gegen Liberalisierung und Lohndumping in den Seehäfen. Statt Co-Management bei der Privatisierung und Zerschlagung brauchen wir den einheitlichen solidarischen Widerstand und die Vereinigten Öffentlichen Eisenbahnen von Europa.
Alfred Lange, www.bahnvonunten.de