Dass Union und SPD im Koalitionsvertrag dem Vernehmen nach auf einen Börsengang der Deutschen Bahn (DB) verzichten wollen, lässt aufhorchen. Doch ein genauerer Blick auf die Hintergründe nährt Zweifel und Skepsis am fortschrittlichen Charakter dieser Zielsetzung.
Viele GewerkschafterInnen und PrivatisierungsgegnerInnen werden sich freuen. Endlich ist es amtlich: Union und SPD wollen die Bahn nicht an die Börse bringen. Manche fragen sich nun: Sind die etwa zur Vernunft gekommen? Hat sich nach 20 Jahren „Privatisierungsorgien“ nun auch in höchsten Regierungskreisen die Einsicht durchgesetzt, dass der Schienenverkehr ein Stück Daseinsvorsorge ist und dem Gemeinwohl dienen soll?
Dass die sich anbahnende Große Koalition nun einen Börsengang ausschließt, bedeutet noch gar nichts. Schließlich war und ist der Börsengang der noch bundeseigenen Deutschen Bahn AG stets nur eine von mehreren Varianten im anhaltenden Prozess der Privatisierung und Zerschlagung des bundesdeutschen Eisenbahnwesens. Um die Jahrtausendwende verkündete der damalige Bahnchef Hartmut Mehdorn erstmals dieses Ziel. Mehrdorn war dabei mit einem Blankoscheck von SPD-Kanzler Gerhard Schröder ausgestattet. Er baute den Deutsche Bahn-Konzern strikt nach seinen Börsen- und Renditevorgaben um. Die Gewerkschaftsspitzen, allen voran der damalige TRANSNET-Vorsitzende Norbert Hansen, wurden mit dem absolut hohlen Versprechen mit ins Boot gezogen, nur mit einem Börsengang sei der Bestand eines „integrierten Bahnkonzerns“ zu gewährleisten. Nur mit „frischem Kapital“ könne die Infrastruktur saniert werden, wurde behauptet. Die mit den Umstrukturierungen einhergehenden finanziellen, personellen und menschlichen „Kollateralschäden“ waren und sind riesig und wirken bis heute nach.
Eigentlich war der Börsengang schon für 2005 anvisiert. In den Turbulenzen um die überraschende Bundestagsneuwahl im September 2005 wurde er vertagt, aber gleich nach der Wahl im Regierungsprogramm von Union und SPD festgehalten. Nach jahrelangem, kräftezehrendem Tauziehen um verschiedene Privatisierungsmodelle beschloss der Bundestag im Mai 2008 eine Teilprivatisierung über einen Börsengang der DB-Tochter Mobility Logistics (MLAG). Dieser sollte im Oktober 2008 stattfinden. Dass der damalige Finanzminister Peer Steinbrück das Wagnis in letzter Minute abblies, war allein der damals hereinbrechenden Wirtschafts- und Finanzkrise geschuldet. Schließlich waren in der damaligen Krise nur schlechte Verkaufspreise für die Aktien zu erwarten. Und die Idee einer Bahnprivatisierung war zunehmend unpopulär geworden.
Das war kein Zufall. Zwischen 2004 und 2008 meldete sich das bundesweite Aktionsbündnis „Bahn für Alle“ als Plattform aller Gegner einer Privatisierung des Deutschen Bahn bundesweit zu Wort und beeinflusste die Diskussion und öffentliche Stimmung. Der Dokumentarfilm „Bahn unterm Hammer“ machte die Runde. Die unermüdliche Kampagne- und Überzeugungsarbeit schlug sich in Meinungsumfragen nieder, die eine Mehrheit gegen die Bahnprivatisierung signalisierten. Dies fand zunehmend auch in der SPD ein Echo, wo sich immer mehr Mitglieder Untergliederungen offen gegen den geplanten Börsengang aussprachen. „Die Bahn gehört aufs Gleis und nicht an die Börse“, rief der Delegierte Peter Conradi beim Hamburger SPD-Bundesparteitag 2007 aus und traf damit die Stimmung einer Mehrheit im Saal. Nur durch Tricks von Strippenziehern wie Kurt Beck und Olaf Scholz wurde eine klare Beschlussfassung gegen die Privatisierung verhindert.
Im Grunde entsprachen Mehdorns Börsenpläne nie den eigentlichen Konzepten bundesdeutscher Eliten und Großkonzerne. So propagieren der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und mit ihm Union, FDP und viele Grüne seit Jahren das „britische Modell“ einer Trennung von Netz und Betrieb. Demnach soll der Staat das tendenziell defizitäre Schienennetz vorhalten und bezuschussen, aber alle anderen Betriebe rund um den Schienenverkehr in private Hände geben. Mit dem Schlagwort „Liberalisierung“ und „mehr Wettbewerb“ widerspiegelt sich dieses Ziel seit Jahren auch in entsprechenden EU-Richtlinien, die den nationalen Regierungen und damit auch einer künftigen Großen Koalition als „Sachzwang“ dienen, um Zerschlagung und Ausverkauf im Eisenbahnwesen fortzusetzen.
In diesem Sinne wollen nun auch Union und SPD das Schienennetz in Bundeshand halten und „den Wettbewerb stärken“. Dass sie den DB-Konzernverbund erhalten wollen, ist ein Zugeständnis, um die Bahngewerkschaft EVG (ehemals TRANSNET) ruhig zu halten. Schließlich verhindert der konzernweite Arbeitsmarkt, dass DB-Beschäftigte bei Wegfall des Arbeitsplatzes auf der Straße und später in Hartz IV landen. So können etwa gesundheitlich angeschlagene Lokführern und Fahrdienstleiter für andere Tätigkeiten umgeschult und vermittelt werden. Auch aus bürgerlicher Sicht wäre es eine „unnötige“ Provokation, diese Regelung durch eine Zerschlagung der DB mit der Brechstange außer Kraft zu setzen.
Dass indes auch ein Verzicht auf den Börsengang noch längst keine „Privatisierungsbremse“ ist, zeigt die praktische Erfahrung. So verkaufte die DB schon 2005 unter Mehdorns Regie still und diskret profitable Tochterbetriebe an private Konzerne: die Fernbusgesellschaft Deutsche Touring, die Deutsche Eisenbahnreklame in Kassel oder die Ostseefährgesellschaft Scandlines. Vodafone wurde als Telekom-Konzern in Deutschland erst mit der Übernahme der ehemaligen DB-Kommunikationssparte so richtig groß. Die Abtrennung lukrativer Filetstücke und damit einhergehende Zerschlagung des Organismus Eisenbahn ist also bereits seit Jahren in vollem Gange. Im Schienenpersonennahverkehr verdrängen Privatbahnen bei den regionalen Ausschreibungsverfahren zunehmend die DB-Tochter DB-Regio vom Gleis. Im Schienengüterverkehr tummeln sich mittlerweile allerlei private Güterbahnen, die oftmals den Eigentümer wechseln, kommen und gehen. Auch dieser viel gepriesene „Wettbewerb“, meistens auf dem Rücken der Beschäftigten, ist ein Stück Privatisierung und Zerschlagung und behindert das Gesamtsystem Schienenverkehr. Zudem baut sich mit der von Schwarz-Gelb beschlossenen Liberalisierung des Fernbusverkehrs eine neue Konkurrenz zum umweltfreundlichen und sozialen Eisenbahnverkehr auf.
Der Wahnsinn geht also weiter. Statt Entwarnung ist Misstrauen angesagt. Das Engagement gegen die schleichende Zerschlagung und Privatisierung des Eisenbahnwesens muss weiter gehen. Der Schienenverkehr ist und bleibt ein Rückgrat einer sozialen und ökologischen Verkehrsinfrastruktur für Personen und Güter. Privatisierung, Zerschlagung und „Wettbewerb“ im Schienenverkehr waren und sind ein Fehlschlag. Sie können und müssen wieder rückgängig gemacht werden. Das System Eisenbahn taugt nicht als Renditeobjekt. Es gehört in eine, nämlich die öffentliche Hand und muss demokratisch kontrolliert werden.