Wenn die französische Nationalversammlung an diesem Dienstag in Paris ein Gesetz zur „Bahnreform“ debattiert und verabschiedet, dann steht eine Mehrheit der betroffenen Eisenbahner dem Projekt nach wie vor ablehnend gegenüber. Sichtbarer Ausdruck dieser Distanz war ein gut zehntägiger landesweiter Streik bei der Eisenbahn SNCF (Société Nationale des Chemins de fer Français), der Mitte vorletzter Woche begann und am Wochenende in den Streikzentren überwiegend beendet wurde. Dieser Arbeitskampf wurde in den allermeisten bundesdeutschen Medien ausgeblendet und war auch für die Gewerkschaften EVG und GDL kein Thema. Was sind die Hintergründe?
Die „Reform“ des Eisenbahnwesens soll nach Angaben ihrer Urheber die Netzbetreibergesellschaft RFF (Réseau ferré de France) nach bundesdeutschem Modell wieder unter dem Dach der noch in Staatsbesitz befindlichen Konzernholding SNCF ansiedeln. RFF war 1997 unter einer „rot-rot-grünen“-Regierung durch Ausgliederung gebildet worden. Nun soll die künftige SNCF-Gruppe, die in die Bereiche SNCF (Konzernholding), SNCF Mobilité (Transportgesellschaften) und SNCF Réseau (Netz) unterteilt wird, vollständig für den „Wettbewerb“ geöffnet werden. Was auf den ersten Blick wie eine Zusammenführung von Fahrweg und Transportgesellschaften aussieht und aus der Sicht vieler ganzheitlich denkender Eisenbahner die schädliche Zerfledderung des Organismus Eisenbahn in einzelne Unternehmenssparten überwinden soll, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Vorbereitung einer künftigen Filetierung und Privatisierung des Eisenbahnsektors nach britischem Vorbild. Die „Reform“ soll die 44 Milliarden Euro Schulden, die sich über Jahrzehnte im Eisenbahnsektor angehäuft haben, nicht streichen, sondern dadurch „stabilisieren“, dass Neubauprojekte künftig nicht von SNCF Réseau, sondern von den öffentlichen Auftraggebern in Paris oder den Regionen finanziert werden.
Französische Eisenbahner haben eine lange kämpferische Tradition und sind gleichzeitig in separaten, konkurrierenden Richtungsgewerkschaften organisiert. Als sie Ende 1995 der konservativen Regierung Juppé den Kampf ansagten und in einer spontanen Streikbewegung wochenlang das Land lahm legten, wurden „französische Verhältnisse“ legendär. Weil sich Nicole Notat, Chefin der damals starken, sozialdemokratisch orientierten CFDT (Confédération française démocratique du travail) , vom Streik distanzierte, bildete sich ab 1996 aus einer Abspaltung der CFDT die neue klassenkämpferische Basisgewerkschaft SUD Rail, in der sich seither eine politisch radikalisierte Minderheit der Eisenbahner organisiert.
Ein Hauch von 1995 wehte auch am 22. Mai 2014 wieder über Paris, als viele tausend Mitglieder verschiedener Bahngewerkschaften durch die Hauptstadt zogen und anlässlich der anstehenden „Bahnreform“ ihre Forderungen unterstrichen. Sie verlangten die Überwindung der Trennung von SNCF und RFF und Wiederherstellung eines einheitlichen öffentlichen und nicht profitorientierten Eisenbahnunternehmens sowie die Streichung aller Schulden. Eine Zerschlagung des Konzerns SNCF, der ähnlich wie die Deutsche Bahn immer mehr Tochtergesellschaften bildet, Ausgründungen vornimmt und prekären Beschäftigungsbedingungen Vorschub leistet, müsse gestoppt werden. Allen im Eisenbahnwesen Tätigen müssten Einkommen, Arbeitsbedingungen und sichere Beschäftigungsperspektiven wie im gesamten Öffentlichen Dienst angeboten werden, so eine weitere zentrale Forderung.
Regierung und Bahnmanagement sagten zur Beruhigung der Gemüter einzelne „Nachbesserungen“ am Gesetz zu und holten damit einen Teil der Gewerkschaftsapparate, allen voran die Spitzen von CFDT und UNSA (Union nationale des syndicats autonomes), ins Boot. Weil diese Zugeständnisse jedoch bei weitem nicht den zentralen Forderungen entsprachen, begann nach dem Pfingstwochenende mit Vollversammlungen an großen Bahnhöfen die Streikbewegung, bei der die Aktivisten von SUD Rail von Anfang an als treibende Kraft wirkten. Neu und entscheidend an dieser Bewegung war allerdings die aktive Mitwirkung der nach wie vor größten, traditionell kommunistisch orientierten Bahngewerkschaft CGT Cheminots. Zwar strebte auch ihr Chef Gilbert Garrel zunächst einen Pakt mit Regierung und Bahnmanagement an und sprach sich gegen den Arbeitskampf aus. Nachdem jedoch seine Basis streiken wollte und gemeinsam mit den Aktivisten von SUD Rail vollendete Tatsachen schuf, musste er den Tatsachen Rechnung tragen und den Streik unterstützen.
Aus der Sicht von SUD Rail war schon allein dieser Sachverhalt ein gewaltiger Durchbruch. Schließlich standen ihre Aktivisten bei früheren Bewegungen etwa gegen die „Rentenreform“ des konservativen Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy oftmals alleine da, weil Mitglieder und Anhänger anderer Gewerkschaften den Kampf aufgaben oder nicht führen wollten. Immer wieder zeigte das von Regierung, Management und Gewerkschaftsapparaten betriebene „Teile und Herrsche“ Wirkung. Diesmal kam es in täglichen Streikversammlungen und vielfältigen öffentlichen Aktionen zum Schulterschluss der Aktivisten von CGT und SUD Rail. Beide Gewerkschaften errangen bei den jüngsten Wahlen zu den Personalvertretungen insgesamt rund 53 Prozent der Mandate und haben zusammen die Mehrheit der SNCF-Belegschaft hinter sich.
An der Einheitsfront von CGT und SUD Rail konnten auch eine von den Streikenden beklagte verzerrende Berichterstattung in den allermeisten Medien und wiederholte Appelle des sozialdemokratischen Regierungschefs Manuel Valls zu Beendigung eines „sinnlosen“ Streiks nichts ändern. Schließlich waren und sind die Gewerkschaftsaktivisten davon überzeugt, dass sie nicht nur für ihre eigene Zukunft, sondern gegen Privatisierung und Liberalisierung und für ein sicheres. Soziales, ökologisches und zuverlässiges öffentliches Verkehrsangebot im Interesse der Allgemeinheit kämpfen. „Wir streiken, weil wir nicht wollen, was in England passiert ist, wir streiken für die Zukunft des ganzen Landes“, sagte uns ein Kollege in Ostfrankreich. „Der Eisenbahntransport von Gütern und Personen entspricht einer gesellschaftlichen, ökologischen und ökonomischen Notwendigkeit und darf nicht in die Hände von Privatunternehmen fallen, die ihren Aktionären Dividenden ausschütten müssen.“; brachte es SUD Rail-Sprecherin Nathalie Bonnet in der vergangenen Woche in einem Gastbeitrag in der Tageszeitung Le Monde auf den Punkt. „Wir wollen ein einheitliches öffentliches Eisenbahnunternehmen und keine Holding nach dem Vorbild anderer europäischer Länder, die nur als Instrument zur Zerschlagung und Privatisierung dient.“
Ende vergangener Woche votierten nahezu alle lokalen Streikversammlungen für einen Abbruch des Arbeitskampfes. Weil es keine gewerkschaftlichen Streikgelder gibt, ist der Lohnausfall für viele schmerzhaft. Dennoch ist die Stimmung trotzig. „Das ist keine Niederlage“, erklärte uns ein Fahrdienstleiter aus Ostfrankreich am Wochenende. Regierung und Management hätten vorab nie damit gerechnet, dass der Streik überhaupt so lange andauern und zum Uasfall vieler Züge führen würde. Es war ein aktiver Streik, der den Koordinatoren viel Arbeit und einen 18-Stunden Tag- abverlangte. Weil die meisten Medien gegen den Streik Stimmung machten, war die Kommunikation über soziale Netzwerke umso wichtiger.
Neue Bewegungen in den kommenden Monaten sind wahrscheinlich. „Zehn Tage Streik sind nicht wenig. Und sie werden nicht umsonst gewesen sein! Diejenigen, die Widerstand leisten, kämpfen, streiken, haben recht“, so die Zwischenbilanz eines aktuellen SUD Rail-Flugblatts. „Deutsche und französische Eisenbahner müssten zusammen streiken“; sagt uns ein Kollege: „Wir sind dafür offen. Wir hätten die Kraft und könnten was bewegen.“