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Über
1700 Beschäftigte der Deutschen Bahn und mehrerer
Privatbahnen haben am frühen Dienstagvormittag mit einem
mehrstündigen Warnstreik den Eisenbahnbetrieb bundesweit
stark beeinträchtigt. Sie folgten einem Aufruf der
Bahngewerkschaften TRANSNET und GDBA. Mit ihren Aktionen
bekräftigten sie die Forderung nach Abschluss eines
einheitlichen bundesweiten Branchentarifvertrags für alle
Unternehmen des Schienenpersonennahverkehrs.
Schwerpunkte
des Warnstreiks waren nach Gewerkschaftsangaben
Nordrhein-Westfalen (NRW), Bayern und Hessen. Allein in NRW
beteiligten sich über 600 Eisenbahner an den Aktionen. So war
in einigen großen deutschen Eisenbahnknoten vorübergehend
ein Hauch von „französischen Verhältnissen“
zu spüren, als Lokführer und Kundenbetreuer ebenso die
Arbeit niederlegten wie Fahrdienstleiter, Rangierer, Werkstatt-
und Reinigungskräfte. Dadurch kam der Verkehr vor allem in
den Hauptbahnhöfen von Köln und Nürnberg zeitweise
komplett zum Erliegen. In Nürnberg beteiligten sich nahezu
sämtliche Beschäftigtengruppen rund um den Bahnhof an
den Aktionen. Auch in anderen Metropolen wie München,
Düsseldorf, Dortmund, Essen und Münster wurde der
Betrieb stark beeinträchtigt. Die streikbedingten Zugausfälle
und Verspätungen im Nah- und Fernverkehr wirkten sich nach
Angaben der Deutschen Bahn bundesweit bis in die Abendstunden aus,
da die betroffenen Züge erst nach Stunden wieder an den
vorgesehenen Einsatzstellen zur Verfügung standen.
In
Hessen, wo TRANSNET und GDBA 500 Streikende zählten, lag
neben dem Rhein-Main-Gebiet ein Streikschwerpunkt in Kassel. Hier
legten Fahrpersonal, Service- und Werkstattmitarbeiter und
Fahrdienstleiter die Arbeit nieder. Aktionen wurden auch aus
Thüringen und Sachsen-Anhalt gemeldet. Dort wurden mehrere
Stellwerke in und um Magdeburg, Halle, Sandersleben und
Halberstadt ebenso bestreikt wie Werkstätten und
Nahverkehrszüge. Vom Arbeitskampf erfasst wurden auch
Hannover, Stuttgart, Karlsruhe, Saarbrücken und Trier.
Mit
den gestrigen Aktionen war es den Gewerkschaften erstmals
gelungen, die noch bundeseigene Deutsche Bahn und mehrere
Privatbahnen gleichzeitig zu bestreiken. So wurden nach
TRANSNET-Angaben die Veolia-Töchter Nord-West-Bahn in
Niedersachsen, Rheinisch-Bergische Eisenbahn in Mettmann (bei
Düsseldorf), Bayerische Regiobahn und Bayerische Oberlandbahn
ebenso vom Arbeitskampf erfasst wie die Arriva-Töchter
Regentalbahn in Cham und Zwiesel, Alex in Kempten und Prignitzer
Eisenbahn im Raum Berlin. Vom Ausstand betroffen waren auch die
nordhessische Cantus-Verkehrsgesellschaft, die Ostdeutsche
Eisenbahngesellschaft (ODEG) sowie die Niederbarnimer
Eisenbahnbetriebsgesellschaft.
Kein
„normaler“ Konflikt
Dies
ist kein „normaler“ Tarifkonflikt um Lohnprozente wie
jeder andere. Schließlich wollen die Bahngewerkschaften
TRANSNET und GDBA mit einem umfassenden Flächentarifvertrag
krasse Fehlentwicklungen als Folge politischer Entscheidungen in
den 1990er Jahren korrigieren. Denn zeitgleich mit der
Weichenstellung für die formale Privatisierung durch
Zusammenschluss von Deutscher Bundesbahn (West) und Deutscher
Reichsbahn (Ost) zur Deutschen Bahn AG (DB) beschloss die
schwarz-gelbe Bundesregierung 1993, dass künftig
Aufgabenträger der Länder für die Ausschreibung und
Bestellung der Nahverkehrsleistungen zuständig sein sollten.
Diese „Regionalisierung“, durchaus auf der Linie einer
von der EU vorgegebenen schrittweisen Liberalisierung und
Privatisierung, öffnete Tür und Tor für die
zunehmende Zerschlagung einer einheitlichen Eisenbahn und ließ
neue Bahnen wie Pilze aus dem Boden schießen. Da sich die
„Wettbewerbsfähigkeit“ gegenüber der
DB-Tochter DB Regio überwiegend aus dem Preis ableitet,
erhielten viele dieser neuen Firmen mit günstigeren Angeboten
den Zuschlag, weil sie deutlich geringere Löhne zahlen. Dass
diese „Geiz ist geil“-Mentalität auf Dauer auch
Qualität und Sicherheit beeinträchtigt, können
viele Kunden aus eigener Erfahrung bestätigen. Oftmals lassen
sich die Gewinner von Ausschreibungen die (relativ oberflächliche)
Ausbildung ihres Personals und Lohnkosten im ersten Betriebsjahr
zudem von der Arbeitsagentur finanzieren.
Monopoly
Die
Chance, im staatlich subventionierten deutschen Personennahverkehr
risikolos Profite zu erzielen, hat internationale Konzerne auf den
Plan gerufen. So breitete sich der ursprünglich mit der
Privatisierung von Bahnen und Bussen in Großbritannien groß
gewordene Arriva-Konzern rasch auch in Deutschland aus. Arriva
wurde hier vor allem mit der Privatisierung landeseigener Bahnen
in Bayern und Niedersachsen und dem Aufkauf mittelständischer
Busunternehmen groß. Veolia Verkehr ist aus dem früheren
Connex-Weltkonzern entstanden, der sich seit den 1990er Jahren auf
die gewinnträchtige Privatisierung von Einrichtungen der
Daseinsvorsorge spezialisiert hat. Abellio ist das Produkt einer
privatisierten Ausgründung der Essener Verkehrsbetriebe und
inzwischen Auslandstochter der niederländischen Bahn NS.
Keolis ist ein Gemeinschaftsbetrieb der französischen
Staatsbahn SNCF und des Axa-Versicherungskonzerns. Benex gehört
zu 51 Prozent der landeseigenen Hamburger Hochbahn und zu 49
Prozent dem australischen Finanzinvestor Babcock & Brown
Public Partnerships. Im Gegenzug „wildert“ auch die DB
europaweit. So sind die in den Tarifkonflikt einbezogenen
erwähnten Privatbahnen keine „Mittelständler“,
sondern selbst Ableger großer Konzerne mit Dutzenden
Tochtergesellschaften und bundesweit über 10.000
Beschäftigten. Zwar waren ihre Unterhändler nach langen
Sondierungen im Sommer zu Verhandlungen mit den Gewerkschaften
über einen Flächentarifvertrag bereit. Doch weil sich
diese Verhandlungen wochenlang ergebnislos hinzogen und nach
Gewerkschaftsangaben „völlig festgefahren“ waren,
drohten die Gewerkschaften schon vor zwei Wochen mit Streiks.
Knackpunkt: Das von den sechs führenden Privatbahnen
angebotene tarifliche Lohnniveau liegt nach Berechnungen der
gewerkschaftlichen Tarifexperten gut 20 Prozent unter dem
derzeitigen DB-Standard. Für sie kommt es nicht nur auf
nominale Stundenlöhne, sondern das Jahreseinkommen an.
Eine
solche Abweichung von über 20 Prozent können die
Gewerkschaften nicht hinnehmen, zumal sich TRANSNET und GDBA am 1.
Dezember mit ihrem Zusammenschluss zur neuen Eisenbahn- und
Verkehrsgewerkschaft (EVG) als neue starke Organisation mit
geballter Kraft und nicht als Verlierer präsentieren
wollen. Vor allem müssten auch die Kunden auf
qualifizierte und motivierte Eisenbahner zählen können,
verlangen die Gewerkschaften. Bei einem Betreiberwechsel nach
erfolgter Ausschreibung müssten die Mitarbeiter von neuen
Unternehmen zu den bisherigen Tarifstandards weiterbeschäftigt
werden. Die Lohnspirale nach unten habe jedoch das Gegenteil
bewirkt, während „die Tickets dadurch nicht billiger
geworden" seien.
Die Gewerkschaften kritisieren ebenso
die fehlende Bereitschaft der DB Regio, auf das Anbieten mit
ausgegründeten und tarifvertragslosen Billigtöchtern zu
verzichten. Dies dient den sechs führenden Privatbahnen
offenbar als Vorwand, um sich nicht mit der DB Regio an einen
Tisch zu setzen. „Diese Art von Kindergarten zwischen den
Arbeitgebern muss aufhören“, fordert Kirchner. Er
verlangt ein Arbeitgeberangebot ohne Lohndumping. In diesem Punkt
könne es auch keine Schlichtung geben, weil die
Gewerkschaften nicht bereit seien „uns von minus 20 Prozent
auf minus 10 Prozent schlichten zu lassen“. Bis zum
kommenden Wochenende wollen die Gewerkschaften allerdings zu
keinen weiteren Warnstreiks aufrufen.
Was
nun?
TRANSNET
und GDBA dürfen in diesem Arbeitskampf nicht mit angezogener
Handbremse führen, sondern müssen den Druck ab sofort
verstärken! Nötig ist ebenso ein Schulterschluss mit
anderen Gewerkschaften und eine Koordination mit den aktuellen
DGB-Herbstaktionen. Schließlich ist das Lohndumping in der
Schienenbranche nur ein Bestandteil jahrelanger Angriffe auf
tarifliche und soziale Errungenschaften. Auch im Post- und
Logistikgeschäft ruft die Liberalisierung neue
Privatunternehmen auf den Plan, die mit Hungerlöhnen um
Marktanteile kämpfen.
Der
Kampf um einen Flächentarif für die Schienenbranche
offenbart den Widersinn der Liberalisierung, Zerschlagung und
Privatisierung öffentlicher Betriebe. Der Kostendruck durch
die „Regionalisierung“ im öffentlichen Nah- und
Regionalverkehr und die Kürzungen der Bundesregierung
fördern unweigerlich Lohn- und Sozialdumping. Über den
Kampf für einen Flächentarifvertrag hinaus muss der
gesamte Ausschreibungsunsinn und die damit einhergehende
Zerschlagung des Eisenbahnwesens in Frage gestellt werden.
Einheitliche
Tarif- und Sozialbedingungen bei allen Bahnen! Für einen
Flächentarifvertrag Schiene auf dem heutigen DB-Niveau!
Keine Kürzung der ÖPNV-Gelder!
Schluss
mit teuren und sinnlosen Prestigeprojekten wie Stuttgart 21!
Flächendeckender
Ausbau eines für alle Menschen erschwinglichen öffentlichen
Verkehrsangebots!
Schluss
mit Ausschreibungsunsinn und Scheinwettbewerb im ÖPNV! Wir
wollen keinen Verdrängungswettbewerb um die geringsten
Personalkosten nach dem Motto „jeder gegen jeden“.
Wir brauchen vielmehr einen Wettbewerb um die besten Ideen und
die beste Qualität der Leistung.
Der
ÖPNV darf nicht zum Tummelplatz privater Konzerne werden! Er
ist eine öffentliche Aufgabe der Daseinsvorsorge und gehört
in die öffentliche Hand und unter die demokratische
Kontrolle der Beschäftigten und Nutzer! Keine Privatisierung
der Deutschen Bahn!
Schluss
mit dem Rückfall in das 19. Jahrhundert, in die Zeit der
Länder- und Lokalbahnen! Wiederverstaatlichung der
privatisierten Bahnen! Für einen Schienenpersonennahverkehr
(SPNV) in öffentlicher Hand aus einem Guss und nach
einheitlichen Qualitätskriterien!
www.bahnvonunten.de
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