www.bahnvonunten.de


Bahnprivatisierung in Brasilien und die Folgen

Interview mit Roque Ferreira, Pressesprecher der Gewerkschaft Federacao Nacional Independente de Trabalhadores sobre Trilhos. Die Gewerkschaft der Eisenbahner hat insgesamt 25.000 Mitglieder und gehört dem großen Dachverband CUT an.


Welche Erfahrungen hat Deine Gewerkschaft mit der Bahnprivatisierung gemacht?

1990 setzte in Brasilien der Prozess der sogenannten „Sanierung“ und Privatisierung der Eisenbahn ein. Wir hatten damals noch 142.000 Bahn-Beschäftigte und ein einheitliches Schienennetz von 32.000 km, das alle Teile des Landes erschloss. Schon damals war die brasilianische Eisenbahn in erster Linie eine Güterbahn. Der Personenverkehr wurde seither immer mehr eingeschränkt. Dies wurde durch den Privatisierungsprozess verschärft.

Um diesen Prozess durchzuführen, mussten sie erstmals den Widerstand der Eisenbahner brechen, denn wir waren sehr gut organisiert. Neben den Druckern und Setzern hatten vor allem wir eine alte und sehr kämpferische Gewerkschaftstradition. Die Eisenbahner spielten im 19. Jahrhundert beispielsweise eine entscheidende Rolle im Kampf gegen die Sklaverei in Brasilien; sie holten die Sklaven von den großen Ländereien ab und brachten sie in die Städte.

Wir haben in den 1990ern gegen die Privatisierung viele Veranstaltungen gemacht und mobilisiert. Es ging damals übrigens nicht nur um Bahnprivatisierung, sondern auch um die Privatisierung der Stahlindustrie. Trotzdem haben wir es im Endeffekt nicht verhindern können.

Die staatliche Eisenbahn wurde in sechs Bereiche – vor allem regional – aufgeteilt. Und danach wurden die einzelnen Unternehmensbereiche zerschlagen und privatisiert. Der erste Sektor, der privatisiert wurde, war 1996 mein Bereich Oeste (West). Das ist ein Riesengebiet von Sao Paulo bis Bolivien und zum Süden mit 1.950 Streckenkilometern. Der Privatisierungsprozess war 1998 abgeschlossen und erfolgte in Brasilien überwiegend durch Konzessionen, die von der Regierung für 30 Jahre an private Firmen vergeben werden. Dabei wurden das Rollmaterial oder die Werke meistens nicht veräußert, sondern von den privaten Firmen vertraglich angemietet.

Mit der Bahnprivatisierung wurde eine Regulierungsbehörde eingerichtet, die Agencia Nacional de Transportes Ferroviarios, die große Vollmachten hat und quasi autonom vom Staat ist. Der heutige Präsident dieser Behörde ist gleichzeitig Eigentümer einer Logistikfirma, der America Latina Logistica, die sowohl Schienenverkehr als auch Straßentransporte betreibt. Er ist auch Präsident der Arbeitgebervereinigung der Eisenbahnunternehmen. Wir machten eine Kampagne gegen seine Ernennung, doch die Lula-Regierung stellte sich taub.

Am Eisenbahngeschäft sind auch internationale Firmen beteiligt, so Vale do Rio Doce. Eine privatisierte Bergbaugesellschaft, die zwei Güterstrecken betreibt, aber auch an anderen Transportgesellschaften Anteile.hat.


Was ist die Bilanz der Privatisierung aus der Sicht der Eisenbahner?


12 Jahre danach sind landesweit vom Schienennetz nur noch 18.000 km übriggeblieben und 12.000 Beschäftigte in der Kernbelegschaft. Dazu kommen viele Subunternehmen mit insgesamt 20.000 Beschäftigten.

Nun gibt es bis auf den Schienennahverkehr in Ballungsgebieten nur noch Güterverkehr und fungiert der Schienennetz vor allem als Exportkorridor für Getreide, Eisenerze, Metallprodukte und die Erdöl- und Schwerindustrie. Von einer Erschließung des Landes und der Fläche durch die Schiene kann keine Rede sein.


Wie hat sich die Gewerkschaft auf die neue Lage nach der Privatisierung eingestellt?


Nachdem wir in den 90er Jahren die Privatisierungen nicht verhindern konnten, haben wir neue Forderungen aufgestellt. Es stellte sich nämlich heraus, dass viele Firmen die in den Konzessionsverträgen mit der Regierung festgeschriebenen Bedingungen nicht eingehalten haben. Also forderten wir, dass man ihnen die Konzessionen wieder entzieht.

Private Kapitalanleger machen mit dem Schienenverkehr Gewinne. Wir forderten, dass sie für die von ihnen angerichteten Schäden aufkommen sollen.

Die Regierung Cardoso löste die einheitliche Schieneninfrastrukturbetreibergesellschaft – das Netz – faktisch auf. So waren unsere Forderungen nicht aufrechtzuerhalten, weil es kein Netz mehr gab, das als Grundlage für die Wiederverstaatlichung fungieren könnte. Die amtierende Regierung Lula setzte die Auflösung des Netzes fort und vollendete den Cardoso-Plan. Lula hat damit viele Hoffnungen enttäuscht. Eisenbahner forderten demgegenüber, dass Lula die fragmentierten Unternehmensbereiche wieder unter staatlicher Regie zusammenfassen sollte.


Aber Präsident Lula, der selbst als kleiner Arbeiter angefangen hat und über die Arbeiterpartei PT Karriere gemacht hat, hört wohl nicht auf die Gewerkschaften.


Lula ist Gefangener seiner Politik. Er will Industrie und Wirtschaft fördern und die Transportbedürfnisse der wichtigsten Wirtschaftszweige sichern: Erdöl, Getreide und Schwerindustrie. Weil die Eisenbahn Kostenfaktor für diese Industrien ist, investiert der Staat in neue Trassen und übergibt sie dann dem Privatkapital. Es gibt außer einer Touristenbahn keinen landesweiten Personenverkehr und auch keinen öffentlich zugänglichen Güterverkehr, keinen Stückgut- oder Einzelwagenverkehr, sondern fast nur Güterfernverkehr für Massengüter.


Wie hat sich im Vergleich zu Brasilien die Bahnprivatisierung in Argentinien vollzogen?

Es gab in Argentinien vor der Privatisierung eine hochentwickelte Intermodalität – eine enge Verflechtung von Güter- und Personenverkehr. Die Privatisierung war hier im Grunde noch schlimmer und der Prozess ging viel schneller von statten, weil die Gewerkschaften den Prozess „begleitet“ haben. Wir haben es hier mit einer ganz besonderen Verkommenheit und Entartung der peronistischen Gewerkschaftsbürokratie zu tun. Viele von ihnen wurden Aktionäre der Privatbahnen. Die argentinischen Gewerkschaften sind direkt an der Geschäftsführung der Privatbahnen beteiligt.

Während der Privatisierung sagte die Regierung: Die Gewerkschaften sollten sich an diesem Weltmodell beteiligen und ihre Unabhängigkeit behalten, aber auch Co-Manager des Kapitals sein. Bei der Begleitung des Prozesses sollten sie die Forderungen der Mitarbeiter einbeziehen. Wer solche Prozesse begleitet, stützt sie und ist im Grunde damit einverstanden.


Was können wir in Europa aus der Erfahrung in Lateinamerika lernen?


Wir können den deutschen Eisenbahnern nur dringend empfehlen, gemeinsam gegen die Privatisierung den Schulterschluss zu vollziehen, denn mit der Privatisierung geht immer eine Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeit einher. Das wirft uns bei den Arbeitsbedingungen um 50 bis 60 Jahre zurück. Die Firmen zahlen zunehmend nur noch einen Grundlohn und dann leistungsabhängige Zulagen je nach individueller Zielerfüllung, aber die Ziele sind so hoch, dass sie im Grunde unerreichbar sind. Durch ein solches Prämiensystem wird die Solidarität der Arbeiter abgeschafft und ein institutionalisierter Individualismus gezüchtet. Jeder handelt gegen den anderen und will persönlich eine maximale Prämie erreichen. Trotzdem gibt es derzeit bei uns in Brasilien einen großen Widerstand.

Ein weiterer strittiger Punkt ist auch die Abschaffung des zweiten Manns auf der Lok. Es gibt auch einen Kampf gegen das Vordringen von Subunternehmen, die Lokführer ausleihen. Dabei haben wir schon Recht bekommen, denn ein Gericht hat festgestellt, dass Leiharbeit für Lokführer nicht zulässig ist.

Dieser Kampf wird vor allem von unserer Gewerkschaft getragen und geführt, die zwei Drittel aller Eisenbahner organisiert. Daneben gibt es noch andere, kleinere Gewerkschaften, diese sind aber regierungsnah und bürokratisch und organisieren keinen Widerstand.


Was sind die Alternativen zur Privatisierung?

Die Politik orientiert sich an den Interessen der Autoindustrie und multinationalen Konzerne. Wir brauchen aber öffentliche Dienstleistungen, die auch der Öffentlichkeit dienen. Die Eisenbahn muss den Interessen der Allgemeinheit dienen und nicht einzelnen Firmen und Konzernen.

Wir fordern: Der Staat muss das Eisenbahnwesen – Verwaltung, Eigentum und Kontrolle – wieder ganz übernehmen. Die Eisenbahn soll dem Interesse aller Menschen im Lande dienen und nicht dem Profit. Die Bevölkerung hat ein Interesse an einer landesweiten Eisenbahn, die zur Erschließung und Entwicklung des Landes da sein muss. Brasilien ist ein Riesengebiet von kontinentalen Ausmaßen. Es ist absurd, wenn in einem so großen Land der Anteil der Schiene am Güterverkehr nur bei 22 Prozent liegt, ohne Eisenerze gar bei nur 7 Prozent. Es wird im Grunde fast alles auf der Straße transportiert, wobei für die Autobahnen auch noch Gebühren erhoben werden. Straßenbau bedingt enormen Flächenverbrauch und Verschwendung von Kraftstoff und Ressourcen. Das ist für die Umwelt ein Wahnsinn und bewirkt viele Unfälle. Reiche Brasilianer können mit dem Flugzeug durchs Land reisen, die Armen reisen – wenn überhaupt – nur mit dem Bus.


Interview: Hans-Gerd Öfinger



www.bahnvonunten.de