Ein erster Bericht vom Gründungskongress der neuen Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG am 1. Dezember 2010 in Fulda
Es mag am Winterwetter, den drohenden juristischen Fußangeln im Übergangsprozess oder einfach der Fülle von Problemen gelegen haben, die auf die neue neue Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG zukommen. Jedenfalls waren weite Teile der zweitägigen Veranstaltung in Fulda nicht von Euphorie, sondern von nüchterner Sachlichkeit geprägt.
Dabei schrieben die 430 Delegierten aus beiden Quellorganisationen, die mit erdrückender Mehrheit den Weg für den Zusammenschluss freigaben, in Fulda ein neues Kapitel Gewerkschaftsgeschichte. Erstmals nach 1945 hat mit der GDBA ein Mitgliedsverband des Deutschen Beamtenbunds (DBB) seine Mitglieder und Vermögen in eine neue DGB-Gewerkschaft eingebracht.
Der Weg aus dem DBB in den DGB war für die GDBA äußerst steinig. Weil sie Nachahmungseffekte verhindern wollte, griff die Berliner DBB-Zentrale vor einem Jahr zu gezielten Stör- und Sabotageversuchen, um die GDBA zu atomisieren, kappte deren Zugang zu Website und Mitgliederdaten und forderte die Mitglieder per Brief zum Austritt auf. Letztlich verlor die GDBA nur 2000 Mitglieder. 30.000 gehören jetzt zur EVG.
Die erste Stunde beim ersten Gewerkschaftstag der neuen EVG am Mittwoch war die Stunde des Heinz Fuhrmann. Wie kein anderer wirkte der 63-jährige Lokführer als Motor der Vereinigung. Der gebürtige Bremer war von den 1980er Jahren bis nach der Jahrtausendwende hauptamtlicher Sekretär und langjähriger Vizechef der Lokführergewerkschaft GDL. 2002 kam es zum Zerwürfnis mit der GDL. Fuhrmann hatte Glück, musste nicht wieder auf die Lok, sondern kam bei der GDBA unter und wurde bald deren Vizechef. Nun baute er zusammen mit Alexander Kirchner, dem neuen EVG-Chef, die Tarifgemeinschaft (TG) auf, in der beide Organisationen seit 2005 an einem Strang ziehen. Die TG wurde zur Keimzelle der Einheit.
Fuhrmann beschrieb seine Entfremdung von der GDL seit den 1990er Jahren. Deren „Abgrenzungsphilosophie“ habe so weit geführt, dass man bei Seminaren die DGB-Konkurrenz als „Gegner“ und „Ratte“ dargestellt habe. Die Berufsgewerkschaft GDL habe auch mehrfach „schwachsinnige Forderungen“ aufgestellt, nur um ihr Profil zu stärken. In „konspirativen“ Treffs mit Transnet-Vertretern habe er sich für ein einheitliches Vorgehen eingesetzt. Mit der jetzt vollzogenen Vereinigung werde ein „Aufbruch zu neuen Ufern“ möglich. Für Fuhrmann und die anderen EVG-Vorstandsmitglieder bleibt die Hand an die GDL ausgestreckt.
Einer, der den Vereinigungsprozess im und mit dem DGB beinahe aufs Spiel gesetzt hätte, saß in seiner Eigenschaft als ehemaliger Transnet-Chef in Fulda stumm in der zweiten Reihe: Norbert Hansen, der im Mai 2008 überraschend zum Personalvorstand der Deutschen Bahn ernannt wurde und mit diesem Seitenwechsel kurzfristig eine tiefe Krise in der Gewerkschaft auslöste. „Verräter“ rufen ihm einzelne Delegierte im Saal zu, als sie ihn erkennen. Hansen arbeitet heute als Unternehmensberater in Berlin.
2004 hatte Hansen auf Gewerkschaftskonferenzen heftige Angriffe gegen die DGB-Brudergewerkschaft ver.di geäußert und sogar die Möglichkeit einer Loslösung vom DGB angedeutet. Am 1. Mai 2006 führte er in Fulda mit Vertretern von GDBA, Flugbegleiterverband UFO und (bedeutungslosen) Ablegern des Christlichen Gewerkschaftsbundes (CGB) geheime Gespräche über eine mögliche Fusion zu einer neuen Verkehrsgewerkschaft außerhalb des DGB. Ein Jahr später holte sich Hansen im selben Fuldaer Hotel von einem außerordentlichen Gewerkschaftstag die Rückendeckung für seinen Kurs Richtung Bahnprivatisierung. Star der Konferenz war der damalige Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), der den Delegierten versprach, bei einem Börsengang der Bahn werde „nichts verscherbelt.“ Doch all das ist im winterlichen Fulda „Schnee von gestern“, auch wenn sich die neue Gewerkschaft vielleicht schon bald wieder mit dem Problem eines drohenden Börsengangs befassen muss. Wenn das wieder auf der Tagesordnung stehe, würden auch konsequente Privatisierungsgegner zu Wort kommen, sicherte der neue Vorsitzende Alexander Kirchner dem Delegierten Alfred Lange zu, der auch hier aus seinem strikten Nein zum Börsengang keinen Hehl machte.
Bis die neue EVG „DGB-kompatibel“ wurde, habe es lange „Zwei-plus-zwei-plus-zwei-Gespräche“ gegeben, plauderte DGB-Chef Michael Sommer in Fulda aus dem Nähkästchen. Denn zur Aufnahme der EVG in den DGB war die Zustimmung aller DGB-Gewerkschaften nötig. Somit saß auch die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di mit am Tisch, die Fachbereiche für Verkehr und Logistik hat und vor zehn Jahren am liebsten Transnet aufgesogen hätte. Nach teilweise heftigen Abgrenzungskämpfen etwa um die Fahrer der DB-Regionalbusse und nach Hansens Abtritt will man jetzt wieder gesittet und kollegial miteinander umgehen. Dafür sprach in Fulda auch die entspannte Miene von ver.di-Chef Frank Bsirske, der in der ersten Reihe saß. Dies wäre in der „Ara Hansen“ unvorstellbar gewesen.
„ver.di wird uns nicht schlucken und wir werden auch nicht den ver.di-Fachbereich Verkehr schlucken“, prophezeite Alexander Kirchner für die nächsten Jahre. Wichtiger als ein Abwerben von Mitgliedern durch mehrere DGB-Gewerkschaftenauch im Bereich Mobilfunk sei es, dass die Mitglieder in der „Familie“ des DGB blieben. Dies freute auch Michael Sommer, der in Fulda für das Prinzip der deutschen Einheitsgewerkschaften eine Lanze brach und dies anhand von Beispielen aus anderen Ländern untermauerte. Nach 30 Jahren Neoliberalismus seien zwar „einige Vordeiche gebrochen und einige Polder geflutet“. Doch die Einheitsgewerkschaften seien nie vor dem Neoliberalismus in die Knie gegangen, erklärte Sommer.
Einheitsgewerkschaft in Bewegung – Gewerkschaftsfusionen in Deutschland
Mit der Bildung der neuen Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG am Mittwoch in Fulda wurde ein Stück Neuland betreten. Denn erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ist eine DGB-Gewerkschaft aus der Fusion von zwei Mitgliedsorganisationen der konkurrierenden Dachverbände Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) und Deutscher Beamtenbund (DBB) heraus entstanden.
Über Jahrzehnte gliederte sich die bundesdeutsche Gewerkschaftslandschaft in drei Blöcke, die die traditionelle und zunehmend überholte Trennung zwischen Arbeitern, Angestellten und Beamten widerspiegelte: den (vorherrschenden) Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) und den Deutschen Beamtenbund (DBB). Die DAG löste sich 2001 auf und ging zusammen mit der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), der Postgewerkschaft (DPG), der Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen (HBV) und der IG Medien in der neuen Dienstleistungsgewerkschaft ver.di auf.
Dies war aber nicht die einzige Gewerkschaftsfusion der neueren Geschichte. So bildete die frühere Agrargewerkschaft GGLF mit der Bauarbeitergewerkschaft BSE die neue IG BAU. Die ehemaligen Gewerkschaften für die Holz- und Textilbranche schlossen sich der IG Metall an. Die ehemaligen Gewerkschaften für die chemische Industrie sowie die Bergbau- und Lederbranche schlossen sich zur IG BCE zusammen. Aus einstmals 16 DGB-Mitgliedsorganisationen Mitte der 1990er Jahre wurden so durch Verschmelzungen nach der Jahrtausendwende acht Gewerkschaften.
Die dritte Bahngewerkschaft, die Lokführergewerkschaft GDL, hat sich von dem Fusionsprozess im Eisenbahnbereich ferngehalten und verbleibt im Deutschen Beamtenbund (DBB).
Keine Atempause – große Herausforderungen
Die neue Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) mit ihren rund 240.000 Mitgliedern steht ab sofort vor gewaltigen Aufgaben und Herausforderungen. Zwar ist der für 2008 anberaumte und aufgrund der hereinbrechenden Finanzkrise wieder kurzfristig abgeblasene DB-Börsengang derzeit nicht mehr das Thema Nr.1. Doch DB-Chef Grube und die Bundesregierung halten an dieser Zielsetzung fest und scheinen derzeit nur einen günstigen Zeitpunkt abzuwarten. Nach wie vor sind alle wirtschaftlichen Entscheidungen und Umstrukturierungen im Konzern Deutsche Bahn an einem Börsengang ausgerichtet.
Mit der von der Bundesregierung vorangetriebenen zunehmenden Liberalisierung des Fernbusverkehrs droht der Schiene eine neuer, wichtiger Konkurrent mit Schnäppchenpreisen. Auch wenn der DB-Konzern selbst dabei durch eigene Busunternehmen mitmischen will, stehen viele Arbeitsplätze rund um den Schienenverkehr auf dem Spiel.
Auch zwischen den Schienenverkehrsunternehmen wird der Wettbewerb zunehmend auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen. Mit einer möglichen Übernahme der deutschen Bahn- und Busunternehmen im Arriva-Konzern durch ein neues, von der italienischen Staatsbahn FS gegründetes Konsortium dürfte der Verdrängungswettbewerb im liberalisierten deutschen Schienenverkehrssektor noch härter werden.
Mit dem frühzeitigen Gang zum Schlichter nach nur einer Warnstreikrunde haben die EVG-Quellorganisationen nach Auffassung einiger Delegierter kürzlich die Chance aus der Hand gegeben, im seit Monaten schwelenden ungelösten Tarifkonflikt um einen verbindlichen Branchentarifvertrag die volle Kampfkraft in die Waagschale zu werfen und Hungerlöhne wirksam zu bekämpfen. „Die neue Gewerkschaft muss politischer werden und härter gegen Leiharbeit, Arbeitsverdichtung und Lohndumping eintreten“, gab beim Gründungskongress in Fulda eine Berliner Delegierte im Auftrag ihrer örtlichen gewerkschaftlichen Vertrauenspersonen zu bedenken.
Bei all diesen Herausforderungen wird der neue Bundesgeschäftsführer Wolfgang Zell als starker Mann neben Alexander Kirchner dafür zu sorgen haben, dass sich die Hauptamtlichen in den neuen Strukturen nicht monatelang mit organisatorischem Kleinkrieg oder der Sicherung ihres individuellen Arbeitsbereichs befassen und die Mitgliederbetreuung dabei unter die Räder kommt.
Hans-Gerd Öfinger
Siehe hierzu auch das Interview mit Alfred Lange (pdf-Format)