Der kenntnisfreie Sachverstand | Zurück zur Startseite | ||
Der Mann, der am Bahnsteig zwei des
Hauptbahnhofes stand und in die Gleise hinuntersah, hatte eine ernste Mine. Er fuhr sich
mit der rechten Hand mehrmals durch seinen dichten braunen Kinnbart. Dann schaute er zu
seinem Gegenüber, einem langen mageren Endvierziger, der, ebenfalls mit ernstem
Gesichtsausdruck, schweigend neben ihm wartete. Herr F. (so wollen wir den Herrn mit Bart
einmal nennen) ging ein paar Schritte zu einem der dreifächrigen Wertstoffbehälter und
entnahm dem gelben Fach mit der Aufschrift Verpackungen
eine leere Getränkedose. Vorsichtig balancierend, näherte er sich dann der
Bahnsteigkante und legte das runde Blech exakt am Rand jener weiß gekennzeichneten
Linie ab, vor der die Reisenden, bei Einfahrt eines Zuges, zurückbleiben mussten. Dann
trat er schnell wieder nach Hinten und stellte sich erneut neben den Journalisten vom Kurier, wegen dem der Bahnhofsmanager
an diesem Tag länger als vorgesehen Dienst machen musste. Eine Zeitlang verharrten beide unbeweglich.
Einige Reisende waren auf die Männer aufmerksam geworden und stehen geblieben. Eine junge
Frau, allzu neugierig, hatte sich der Dose gar soweit genähert, dass Herr F. einschreiten
musste, um das Experiment nicht unnötig zu gefährden. Es dauerte nicht lange, da fuhr ein Windstoß
in die Bahnhofshalle hinein. Die Dose bewegte sich ein wenig, blieb aber liegen, wo
sie Herr F. kurz zuvor abgelegt hatte. Dann, als ein weiterer Windstoß durch den Bahnhof
zog, schwenkte sie kurz hin und her, rutschte ein Stück über den Bahnsteig, was ein
schepperndes Geräusch verursachte, und fiel schließlich mit einer letzten, nahezu träge
wirkenden Bewegung, über die Bahnsteigkante ins Gleis hinab. Der Manager sah mit einem triumphierenden
Grinsen zu seinem Gast hinüber, der das Schauspiel teils amüsiert, teils mit
verständnislosem Erstaunen beobachtet hatte. der Journalist aber, der gekommen war um
einen Beitrag über die zunehmende Verschmutzung der Gleisanlagen des Bahnhofes zu
schreiben, über die sich die Leser seines Blattes in vielen Leserbriefen immer wieder
beklagt hatten, der Journalist fragte sich, was mit jener Demonstration eigentlich
gewonnen sein sollte. Sehen sie, sagte da der
Bahnhofschef und bat den Mann mitzuschreiben, hier haben wir die Wurzel des Übels
in aller Deutlichkeit erfasst! Der Journalist aber verstand noch immer nicht
was man ihm klar zu machen versuchte. Schließlich nahm ihn der Manager bei der
Schulter und führte ihn ein Stück den Bahnsteig entlang und dem Ausgang entgegen. Schauen sie, sagte er, das
Problem, das wir mit der Reinigung der Gleisanlage haben, ist nämlich ein rein
organisatorisches. Wenn Bestandteile der mobilen
Gastronomie, wie diese kleine Dose (er zeigte noch einmal in das Gleis hinunter,
das mit Dosen, Flaschen, Zigarettenkippen und vor allem Papierresten übersät war),
wenn dieser Müll also vom Bahnsteig in den Gleisbereich hineinrollt, dann wechselt er
dabei den Geschäftsbereich und somit auch die Kostenstelle, über die die Kosten für
eine Reinigung abzurechnen sind. Der Bahnsteig nämlich gehört in den
Zuständigkeitsbereich der Station, die Gleise aber zum Geschäftsbereich Netz. Solange
nicht eindeutig geklärt ist, wer genau für die Beseitigung des Mülls zuständig ist, so
lange ist eben eine Beseitigung desselben nicht zu realisieren. Im Augenblick entzieht
es sich deshalb meiner Kenntnis, wer für die Reinigungskosten aufkommt. Aber ich bin
sicher, dass wir jetzt, wo wir, mit dem notwendigen Sachverstand, in der Lage waren das
Problem zu erkennen, auch im Stande sein werden professionell und vor allem
schnellstmöglich Abhilfe zu schaffen. Der Bahnhofsmanager grinste den Journalisten mit zufriedener Mine an, und der wiederum dachte nun daran, dass dies wohl tatsächlich eine reine Form des Kenntnisfreien Sachverstandes war, die er hier vor sich hatte, und so hat er seinen Artikel über den Bahnhof schließlich auch genannt. Boris Ewald P.S.: Wer ist Boris Ewald? Hier Angaben zur Person. |