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Bürgerbahn statt Börsenwahn
Was Mehdorn verschweigt:
Die Bilanzen der Bahn wurden seit Jahren gefälscht.

Ein Gastbeitrag von Winfried Wolf (MdB)


Die vor wenigen Tagen vorgelegte 1999er Bilanz der Deutschen Bahn AG und die Ergebnisse für das erste Quartal 2000 sind katastrophal, aber nichts wirklich Neues: Im vergangenen Jahr wurde ein Verlust von 170 Millionen DM »eingefahren«, das Defizit im 1. Quartal 2000 läuft auf einen Gesamtverlust von 200 Millionen Mark bis Jahresende hinaus.
Wer die Bilanzen der Deutschen Bahn AG seit der »Bahnreform« 1994 liest, stellt aber erstaunt fest, daß es Jahr für Jahr aufwärts ging. Laut dem 1995er Bilanzbericht hat sich das »Betriebsergebnis der Deutschen Bahn AG im Vergleich zu 1994 deutlich verbessert. Nach Verrechnung von Zinsen ist es von 90 Millionen DM in 1994 auf 293 Millionen in 1995 angestiegen.« Ein Jahr später wandelte der Bilanz-Lyriker den Satz wenig originell um in: »Im Vergleich zu 1995 hat sich das Betriebsergebnis der DB AG erneut verbessert. Nach Verrechnung von Zinsen ist es von 293 Millionen DM in 1995 auf 336 Millionen DM in 1996 angestiegen.« Die 1996er Bilanz stellte dann fest: »Das Betriebsergebnis der DB AG... ist unter Berücksichtigung von Sonderaffekten im Vorjahr annähernd unverändert.« Im 1998er Bilanzbericht heißt es dann: »Das Betriebsergebnis war rückläufig und erreichte einen Wert von 334 Millionen DM.«
Trotz dieser Delle wurde im gleichen Geschäftsbericht einleitend vom damaligen Bahnchef Johannes Ludewig festgestellt: »Wirtschaftlich war 1998 sicher kein einfaches Jahr. Gleichwohl sind wir im Sanierungsprozeß der Bahn ein beachtliches Stück vorangekommen.« Was also hat sich jetzt derart radikal verändert, daß Mehdorn seit Monaten tönt, die Bahn drohe, erneut Sanierungsfall zu werden? Wie kommt es, daß Mehdorn eine Bilanz für 1999 vorlegte, die eine rapide Verschlechterung belegt?
Tatsächlich gibt es keine solche Wende bei der Bahn. Tatsächlich ist es so, wie es Millionen Fahrgäste Tag für Tag erleben: Dieses Unternehmen fährt auf den Prellbock zu. Tatsächlich wurde mit den Bilanzen Jahr für Jahr die Öffentlichkeit betrogen. Und es war der bisherige Kurs der Bahnprivatisierung, der das »Unternehmen Zukunft« immer weiter ins verkehrspolitische Abseits beförderte. Wenn erst jetzt auch offiziell Verluste ausgewiesen werden, dann sei darauf hingewiesen: Auch die vorausgegangenen Bilanzen waren dann negativ, wenn Sondereffekte wie zu niedrig ausgewiesene Anlagen mit zu geringen Abschreibungskosten und Einnahmen aus Verkäufen z. B. von Immobilien korrekt eingerechnet werden. Bereits die Eröffnungsbilanz der Deutschen Bahn AG hatte einen Webfehler, der dieses Täuschungsmanöver ermöglichte. Das Anlagenkapital der Bundesbahn betrug 1993 noch 100,6 Milliarden Mark, dasjenige der Deutschen Bahn AG 1994 dagegen nur noch 27,2 Milliarden Mark. Mit einem Federstrich waren Tunnel, Gleise, Brücken und Fahrzeuge nur noch ein gutes Viertel ihres früheren Betrages wert. Damit reduzierten sich jedoch auch die Abschreibungsleistungen für die Bahn - also die Kosten, die zu verbuchen sind, um nach dem Verschleiß dieses Anlagenvermögens wieder die Erneuerung bezahlen zu können. 1993 mußten Bundesbahn und Reichsbahn zusammen noch fünf Milliarden Mark an Abschreibungen aufwenden; 1994 denn nur noch 1,9 Milliarden Mark. Es war einer der Väter dieser Bahnreform, Prof. Aberle, der dazu feststellte, die Bahnbilanzen seien geschönt. Und der Bundesrechnungshof stellte am 21. 1. 1997 fest, daß »die DB AG noch keinen eigenen Beitrag zur Ergebnisverbesserung geleistet hat«. Und dann schrieb der Bundesrechnungshof wie folgt Klartext: »Das Betriebsergebnis der DB AG zeigt eine deutliche Verschlechterung gegenüber dem letzten Jahr vor der Bahnreform.«
Schlug nun mit Mehdorn die Stunde der Wahrheit? Mitnichten. Die Vorschläge, die er für die weitere Bahnpolitik ankündigte, werden die Krise noch verstärken. Mehdorn will die »Zugkategorien auf nur noch vier« reduzieren. Tatsächlich soll der »Interregio/IR« faktisch abgeschafft werden. Dabei ist diese Zuggattung ausgesprochen populär, erfolgreich und rentabel. Bis 1995 nutzten z. B. mehr Fahrgäste den IR als den ICE. Umgekehrt ergibt eine exakte betriebswirtschaftliche Rechnung, daß der ICE, auf den der Fernverkehr konzentriert wird, massiv zum Bahndefizit beiträgt. Der ICE-3 soll, so bahninterne Recherchen, sogar bei 100 Prozent Auslastung seine Kosten nicht decken.
Dann sollen große Bahnhöfe zu »Erlebnis- und Service- Centern« ausgebaut werden. Tatsächlich wird hier an Geld nicht gespart. Es zeigt aber auch die falsche Richtung an, wenn z. B. der Mannheimer Hauptbahnhof zu einer Einkaufs- Spaß-Welt ausgebaut wird, Mannheim als ICE-Knotenpunkt jedoch abgehängt werden soll.
Im Restjahr 2000 soll der Personenverkehr »im Wesentlichen von der Expo profitieren«. Er konzentriert sich damit erneut auf eine marginale Klientel und verprellt die Masse der Fahrgäste. Hohe Sondertarife und der Wegfall des Schöne-Wochenende-Tarifs in Niedersachsen werden sich massiv nachteilig auf den gesamten Bahnverkehr auswirken. Es sei eben »Ausnahmezustand in Hannover«, sagte Mehdorn auf der Bilanzpressekonferenz - unbewußt die richtige Wortwahl. Mehdorn hat zudem angekündigt, die Kostenexplosion »beim Knoten Berlin durch Einsparungen auffangen«. Eine bahninterne Option in Berlin ist u.a., den Schienentunnel unter dem Tiergarten auf zwei Gleise zu reduzieren. Damit bestätigt Mehdorn all das, was die Kritik am zentralen neuen Lehrter Bahnhof vortrug. Am Ende zentralisiert dieses Projekt nur Fernverkehr. Kapazitäten für den wichtigen Regionalverkehr entfallen nun durch »Sparzwang«. Die Chance, die Stadtbahn-Kapazitäten ausreichend vorzuhalten - u. a. indem die Bahnsteige in Friedrichstraße und Alexanderplatz ausreichend lang für den Fernverkehr gestaltet worden wären, wurde vertan - zugunsten eines Milliardengrabs am Lehrter Bahnhof. Ein Hauptproblem bleibt auch, daß das Streckennetz von 38 000 auf 32 000 Kilometer gekappt werden soll. Damit beraubt sich die Bahn ihrer eigenen Perspektiven und Kapazitäten.
Die Bilanz: Je mehr sich die Bahnpolitik auf Hochgeschwindigkeit und auf den Geschäftsreiseverkehr konzentriert, desto schneller bewegt sie sich auf den Prellbock zu. Dort endet dann die Fahrt für die große Mehrheit der Bahnkunden. Das Ziel ist nicht der Schienenverkehr, sondern der Börsengang. Erneut gilt: Bürgerbahn statt Börsenbahn!

Winfried Wolf (MdB - PDS)
"Junge Welt" - 15.05.2000

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