Eine Stimme aus Amerika:
Gedanken zu den Rufen nach Privatisierung
des Schienenpersonenverkehrs in den USA

Von Frederick Gamst*
 

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Die heutigen Güterbahnen in den USA sind seit den 1820er Jahren in Privatbesitz. Anders verhält es sich beim amerikanischen Schienenpersonenverkehr. (Die Frage der Schienennahverkehrsunternehmen in Ballungsgebieten, allesamt in öffentlichem Besitz, soll hier einmal ausgenommen werden). Heutzutage sind alle Schienenpersonenverkehre der USA in öffentlichem Besitz. In der Vergangenheit war dieser Bereich im Privatbesitz und gehörte den Privatbahnen, die (bzw. deren Nachfolger) heute die privaten Güterverkehrsunternehmen sind.

Seit dem 1. Mai 1971 betreibt Amtrak (formal unter der Bezeichnung NRPC = National Railroad Passenger Corporation) den Personenfernverkehr auf Schienen. Amtrak betreibt täglich rund 250 Intercity-Personenzüge auf einem Netz von ca. 24.000 Streckenmeilen, von denen 750 Meilen im Amtrak-Besitz sind. Die NPRC ist eine privatrechtliche Gesellschaft, die man allerdings als quasi-verstaatlichte Eisenbahn ansehen kann, die immer von Subventionen der Regierungen des Bundes und der Bundesstaaten abhängig ist. In Amerika hat man die Fiktion freier Privatunternehmen im Schienenpersonenverkehr sehr gern.

Das Gesetz über den Schienenpersonenverkehr (Rail Passenger Service Act) von 1970 ermöglichte es den Privatbahnen Amerikas, den defizitären Personenverkehr an Amtrak abzutreten. Dieses Gesetz verlangte, dass Amtrak effizienten Schienenpersonenverkehr organisieren sollte, um den Bedürfnissen des modernen Intercity-Verkehrs zu entsprechen, moderne innovative Dienste anzubieten und Gewinne zu machen. Jahr um Jahr verlangte der Kongreß von Amtrak solche modernen Dienstleistungen, ohne der Bahn die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen, um etwa das vorhandene Rollmaterial (teilweise stammten die Wagen und Loks noch aus Kriegszeiten) durchgehend zu modernisieren. Einige dieser [vintage] Wagen hatten große Rostlöcher und stehen inzwischen im Eisenbahnmuseum. Fast alle Loks hatten Dampfboiler zum Beheizen von 700 Wagen. Das Rollmaterial war nicht standardisiert. Fahrkartenverkauf und -reservierungssysteme kommunizierten miteinander per Telefon, und über Verkauf und Reservierungen wurde auf Formularen mit Füllfederhaltern Buch geführt. Die Umstände verbesserten sich je nach der finanziellen Ausstattung allmählich. Erst letztes Jahr hatte Amtrak 95 beschädigte Personenwagen, aber kein Geld um sie zu reparieren. Auf dem Nordost-Korridor (diese Ostküstenstrecke von Boston über New York, Philadelphia, Baltimore nach Washington befindet sich im Amtrak-Besitz) bestehen viele Langsamfahrstrecken, weil das Geld für deren Behebung fehlt.

Die großen Güterbahnen, die erstklassigen, sind ziemlich profitable Firmen. Diese erstklassigen Bahnen haben ungefähr 99.000 Meilen ein-, zwei-, drei- oder gar viergleisige Strecken, auf denen rund 20.000 Dieselloks und etwa 1,4 Millionen Güterwagen im Einsatz sind. Sie befördern jährlich rund 1,5 Billionen Tonnenmeilen. Ihr Nettoeinkommen beträgt rund 4 Mrd. $ jährlich, und ihre Rendite liegt bei ca. 6-7 Prozent des eingesetzten Kapitals. Die Güterbahnen konnten ihre Profitabilität nur erhalten, indem sie jeglichen Personenverkehr (Berufsverkehr, Regional und Fernverkehr) abgestoßen haben. Anders ausgedrückt: Früher war der Personenverkehr in Privathänden. Besonders in den 30er Jahren verbuchten die Bahnen Verluste im Personenverkehr. Heute will keine Güterbahn mehr den defizitären Personenverkehr wieder eingliedern.

Warum wird dann im Zusammenhang mit Amtrak wieder von Privatisierung gesprochen? Viele Wirtschaftskonservative und Kongreßabgeordnete behaupten, Amtrak sei gescheitert, weil es keinen Profit abwerfe und keine auf einem Großteil der Strecken keinen Hochgeschwindigkeitsverkehr mit modernem Rollmaterial anbiete. Ihre Anwort lautet: Amtrak privatisieren (und die wertvollen Immobilien in Großstädten veräußern). Die Privatisierer wollen Amtrak in viele private Personenbahnen aufspalten und den Personenverkehr in dünn besiedelten Gebieten ganz einstellen.

Die Privatisierungsbefürworter haben kein geschichtliches Gedächtnis und wissen über die Sache, für die sie sich stark machen, nicht bescheid. Denn der Personenverkehr in den USA war ja einst privat. Privatbahnen konnten dies nicht profitabel betreiben und übergaben alles daher der Regierung. Bevor Amtrak den Personenfernverkehr übernahm, ging der Berufs- und Nahverkehr in den Regionen in die Regie von Bundesstaaten und Regionen über. Die US-amerikanischen Privatisierungsfürworter haben auch keine Ahnung vom aktuellen Debakel der britischen Bahnprivatisierung.

Die britische Bahnprivatisierung hat eine sträfliche Vernachlässigung der Sicherheit und die staatliche Subventionierung privater Profite mit sich gebracht. 2003 verbuchte Network Rail, eine quasi-staatliche Organisation, die die für die Instandhaltung des Netzes eingesetzten privaten Firmen überwachte, ein Defizit in Höhe von 300 Millionen Pfund. Die Gesamtschulden sprangen auf über 9 Milliarden Pfund hoch. Die britische Regierung springt für die Schulden von Network Rail ein, und damit finanziert der Schatzkanzler die Profite der in den 90er Jahren gegründeten Privatbahnen. Denn die privaten Personen- und Güterbahnen sind ja nicht mehr für die Instandhaltung der Schienenwege, Signale und anderer Strukturen verantwortlich und können sich auf [conjured profitability]  konzentrieren, und außerdem verursacht die Trennung von Fahrweg und Betrieb zwangsläufig Betriebsunfälle. Die Privatisierung der Instandhaltung der Trassen und der mit ihr einhergehende Zwang zur Kostensenkung in Großbritannien haben zu gefährlicher Vernachlässigung bei den technischen Standards, zu gefälschten Aufzeichnungen und kleineren, größeren und katastrophalen Zugunglücken geführt. Network Rail musste die Verträge mit sieben privaten Instandhaltungsfirmen aufkündigen und die Arbeiten wieder selbst übernehmen. Dies läutete den Anfang vom Ende der öffentlich subventionierten Bahnprivatisierung ein. 

Es ist der Aufmerksamkeit der US-amerikanischen Privatisierungsbefürworter entgangen, dass keine Verkehrsart in den USA ohne staatliche Subventionen profitabel sein kann und kein Personenzugbetrieb auf der Welt wirklich Gewinne abwirft. Wenn sie auf Amtrak zeigen und die mangelnde Profitabilität von Amtrak bemängeln, dann ist dies entweder willkürlich oder sie sind schlicht und einfach mangelhaft informiert.

Was auch immer die Privatisierer aus Amtrak durch Umstrukturierung machen werden - ihr Handeln kommt sicher nicht dem gesellschaftlichen Nutzen zugute, der sich nicht allein aus den Verkaufserlösen ergibt. Abgesehen vom gesellschaftlichen Nutzen wäre bei einer Privatisierung der Schienenpersonenverkehr in den USA zwangsläufig unterfinanziert und würde weiter zurückgehen. Die versprochenen Modernisierungen und Innovationen würden ausbleiben. Die mit dem britischen Eisenbahnmodell einhergehende Unsicherheit würde sich breit machen.

Der Nutzen, den wir alle aus dem Schienenpersonenverkehr ziehen, läßt sich eben nicht in den Nettogewinn eines Privatbetriebs ausdrücken. Personenzüge sollten nicht wie profitorientierte Privatbetriebe sondern als öffentliche Dienstleistungeinrichtung geführt werden. Der Schienenpersonenverkehr muss dringend ausgebaut werden - nicht nur um die überfüllten Straßen und Highways zu entlasten, sondern auch um die steigenden direkten und indirekten Kosten der stetig zunehmenden Straßenverkehrs und Individualverkehrs zu senken. Hierbei sind die Kosten für Straßenbau, Brücken, Parkplätze und anderer Bauten nur ein Teil der Rechnung. Dazu gehören auch "Lifestyles" (80 Meilen täglicher Anfahrtsweg für Pendler) und Einstellungen (zum Teufel mit den Habenichtsen ohne Auto). Mehr Schienenverkehr kann auch die öffentlichen Ausgaben im Gesundheitswesen und Umweltbereich entlasten, indem die aus einer immer weiter ansteigenden Zahl von Autos folgende Umweltverschmutzung gebremst wird. Insbesondere geht es darum, die Umweltverschmutzung in Folge von Abgasen, Kraftstoffverdampfung, Altöl, Altreifen und anderen Folgen des Autoverkehrs zu vermindern. Schienenpersonenverkehr verbraucht viel weniger Land als Straßenverkehr und kann einer Zersiedelung der Landschaft (wie sie in Los Angeles am deutlichsten sichtbar ist) entgegenwirken.

Im Vergleich zum Automobilverkehr ist der Schienenpersonenverkehr sicherer, effizienter, ökologischer, schneller und vor allem [more equitably]. Im Vergleich der Verkehrsträger ist der Schienenverkehr für Personen und Güter sicherer, sparsamer im Energieverbrauch und umweltfreundlicher. In Gebieten mit großen Verkehrsstaus und begrenztem Raum für Autos, insbesondere in den Innenstädten, ist der viel schnellere Schienenverkehr dringend notwendig. Der soziale, [equitable] und menschliche Schienenpersonenverkehr garantiert älteren Menschen, Behinderten, Armen, Jugendlichen und anderen, die nicht Auto fahren können oder wollen oder es sich nicht leisten können, Mobilität. Der Autoverkehr verkörpert eine elitäre private Exklusivität und wird von der Regierung massiv subventioniert und untergräbt die Chancengleichheit und Solidarität in einer demokratischen Gesellschaft. Demgegenüber bietet der Schienenpersonenverkehr auf vielfältige Weise Zugang zu Orten und Teilhabe an legitimen gesellschaftlichen Aktivitäten, die sonst nur bestimmten Bevölkerungsschichten vorbehalten sind. Dazu gehören die Beförderung zum Arbeitsplatz (die Grundlage für die gesellschaftliche Teilhabe) und zu Dienstleistungen (wie etwa medizinischen Zentren, die Grundlage für das Überleben), was sonst oftmals verwehrt wird.

Abschließend sei gesagt: der auf schlechten Informationen basierende Drang zur Privatisierung des Schienenpersonenverkehrs in den USA ist ideologisch und politisch voreingenommen und nicht von gesamtwirtschaftlichem Denken motiviert. Beispielsweise wenden die Privatisierungsbefürworter ihre Philosophie nicht auf die öffentlichen Straßen an. Mit dem Streben nach Bahn-Privatisierung wird die Orientierung von der öffentlichen Dienstleistung auf das Erzielen privaten Profits umgelenkt. Doch das fehlgeschlagene Privatisierungsexperiment der britischen Bahnen sollte den USA und den anderen in die Richtung von rücksichtslosen Unternehmen steuernden Ländern als Warnung dienen. Ein nennenswerter Schienenpersonenverkehr ist betriebswirtschaftlich nicht profitabel und kann es nicht sein.

Personenzüge dienen der ganzen Gesellschaft, auch Menschen, die nicht mit dem Zug fahren. Schienenpersonenverkehr ist für US-Wirtschaft, die Umwelt, das soziale Gleichgewicht und die nationale Sicherheit von entscheidender Bedeutung. Die Bahnpolitik muss den Personenschienenverkehr durch den Einsatz hochentwickelter Technik zum Einsatz bringen und Fahrweg ebenso wie Rollmaterial in guten Zustand halten und so ein zuverlässiges, sicheres, innovatives und modernes Verkehrsmittel anbieten, das bei der Bevölkerung auch gut ankommt.

April 2004

* Frederick Gamst war in den 60er Jahren Lokomotivführer in Kalifornien und wurde schließlich über den Zweiten Bildungsweg Professor für Anthropologie. Zeitlebens blieb er sich der Sache der Eisenbahner und seiner Gewerkschaft BLE verbunden. Er wirkt nach wie vor als sachkundiger Berater für Gewerkschaften und Bahnbehörden. Zu seinen Schwerpunkten gehören Fragen der Arbeitssicherheit. Gamst besichtigte bei einem Deutschlandbesuch im Sommer 2003 im Zusammenhang mit der Erstellung aktueller Studien u.a. den Rangierbahnhof München-Nord (Schwerpunkt Funkfernsteuerung von Rangierloks) sowie den Arbeitsplatz verschiedener ICE-Lokführer (Schwerpunkt LZB).


Nachtrag:

Folgende Anmerkungen über die Situation US-amerikanischer Güterbahnen stützen sich auch ein Gespräch mit Frederick Gamst bei seinem Deutschland-Besuch im Juli 2003 und flossen in unseren Artikel über Railion (Juli 2003)  ein.

Während Privatisierung immer damit begründet wird, man wolle mit Wettbewerb „starre Strukturen und Monopole“ aufbrechen, zeigt ein Blick über den Atlantik, wohin ein Wettbewerb auf Schienen führt: zu neuen Monopolen. In den USA, wo unter dem Druck der Straßenverkehrslobby der Schienen-Personenverkehr seit einem halben Jahrhundert ein kümmerliches Dasein führt, gab es lange Zeit eine Vielzahl privater Güterverkehrsbahnen. Aufgrund der Größe des Kontinents wird der Transport vor allem von Massengütern vielfach über die Schiene abgewickelt. Der Anteil der Schiene am gesamten Güterverkehr liegt bei immerhin 38% und damit deutlich über den europäischen Werten. Gleichzeitig hat sich in den letzten 30 Jahren der Konzentrationsprozeß rapide beschleunigt. Systematisch kauften Bahngesellschaften andere Schienenverkehrsunternehmen auf, um die Konkurrenz zu vernichten. So sind von 130 großen Bahnen durch Unternehmenskonzentration nur noch 7 übrig geblieben. Die vier größten Gesellschaften – Union Pacific, Burlington Northern Santa Fe, Norfolk Southern und CSX – bilden regionale Monopole und haben einen Jahresumsatz von jeweils über 12 Milliarden Dollar.

Wie fatal Einsparungen sein können, zeigt eine Katastophe mit einem US-Güterzug. Weil der Lokführer (anders als bei der DB bisher vorgeschrieben) keine Streckenkenntnis hatte und zu schnell fuhr, bekam er den über einen Kilometer langen Zug mit seiner ungeheuren Masse auf abschüssiger Strecke nicht mehr in den Griff. Bei der Entgleisung wurden Wohnhäuser zerstört und Menschen getötet.


Was Bilder erzählen:
Der Niedergang des Eisenbahnverkehrs in einem Land, das vor allem auf Straße und Luftverkehr setzt, wird an diesen Bildern sichtbar.

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Weitere Informationen zu den Bahnen in den USA:

USA als Vorbild
für Railion?

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